Gertrud Thausing
(1905-1997)
 
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Ägyptologin, Lehrstuhl an der Ägyptologie in Wien von 1953-1977, * 29.12. 1905 in Wien, † 4.5. 1997 in Wien

Eine äußerst lange Lebenszeit war Gertrud Thausing beschieden. Von ihrem achten bis zu ihrem 92. Lebensjahr war sie von einem tiefen Interesse für die Ägyptologie geprägt. Als sie mit acht Jahren die Stufenpyramide des Königs Djoser (3. Dynastie, 2650—2600 v. Chr.), der ersten Pyramidenanlage bei Sakkara, die er durch seinen genialen Architekten Imhotep erbauen ließ, in einem Kunstgeschichtelexikon aus der Bibliothek ihres Vaters "mit Entzücken" betrachtete (Thausing 1989: 12), fasste sie den Entschluss, sich der Ägyptologie später vollständig hinzugeben.

In eine wohlhabende großbürgerliche Familie hineingeboren, hatte sie den richtigen familiären Hintergrund sich einer Wissenschaft zu widmen, die noch relativ jung war, denn erst 1822 gelang es Jean-Francois Champollion (1790—1832) die Hieroglyphen zu entziffern und damit die Wissenschaft von der Ägyptologie zu begründen. Im Fächerkanon der Universität Wien galt sie als "Orchideenfach", bot also den Absolventen eher geringe Möglichkeiten sich in dem Fach zu etablieren.

Als die 18-jährige Studentin 1923 begann, die ägyptologischen Vorlesungen zu besuchen, befand sich das Institut für Ägyptologie im so genannten Albrechtspalais (heute: Albertina) — ärmlich ärarisch bescheiden ausgestattet. Hier hatte Thausing jedoch ihre richtungweisende Begegnung mit dem damaligen Dozenten und späteren Ordinarius für Ägyptologie Wilhelm Czermak (1889—1953), der wegen seiner physiognomischen Ähnlichkeit mit dem Pharao Ramses II. (1301—1235 v. Chr.) verglichen wurde. Zu dieser Zeit war noch Herrmann Junker (1877—1962) Ordinarius, ein vielbeschäftigter Wissenschaftler, den die Studienanfänger nur "vom Hörensagen" kannten (Thausing 1989: 13). Junker hatte nach der Tradition von Leo Reinisch (1832—1919), der seinerseits 1865 in Österreich die Ägyptologie und 1873 die Afrikanistik begründet hatte, eine Doppellehrkanzel für Ägyptologie und Afrikanistik. Er war überdies ein berühmter Ausgräber der Pyamidenfelder von Gizeh (Westfriedhof und Südseite der Cheopspyramide).

Junkers Nachfolger Wilhelm Czermak hatte einen präzisen, vereinnahmenden Vortragsstil mit stark metaphysischen Verquerungen, dem deshalb insbesondere unter den jungen Damen eine ihm fast schon verfallene Zuhörerschaft zugeschrieben wird. Auch Gertrud Thausing sah in ihm bald eine Art "Guru". Die schwere Krankheit ihrer Mutter, die zu dieser Zeit im Sterben lag, tat das ihre dazu und Thausing weilte mehr am Institut als daheim. Schon als Kind empfand sie die Außenwelt stets als feindlich und uninteressant und entwickelte nach eigenen Beschreibungen besonders nach dem Tod ihrer Mutter eine starke emotionale Bindung an ihren Bruder und ihren Vater, die in völliger Hingabe an Geistigkeit und Verinnerlichung ihre Erfüllung fand (vgl. Thausing 1989: 14).

Allmählich verschwand ihre Schüchternheit und sie begann das Institut für Ägyptologie und Afrikanistik als "Stätte der Freude", "zweite Heimat" und "Lebensschule, entsprechend dem altägyptischen Lebenshaus" zu empfinden. Dazu gehörte auch die für sie selbstverständliche Anerkennung einer hierarchischen gesellschaftlichen Ordnung, "gleich einer Pyramide hierarchisch gegliedert: eine Spitze, die sich auf die Träger-Quadern und die Basis stützte, eine ständige Verbindung von ‚oben’ und ‚unten’" (Thausing 1989: 22); ein Modell das für Thausing bis zur Emeritierung verbindlich war.

Nach ihrer Promotion hatte sie Czermaks afrikanistische Vorlesungen in Suaheli, Hausa, Ful, Somali, Kanuri, Ewe und Altnubisch (die ältere Sprachform des Neunubischen aus dem 10. Jahrhundert n. Chr.) besucht und schon zum Rigorosum Berberisch und Nubisch gewählt. Von Czermak dazu aufgefordert, hielt sie auch bereits Anfängerkurse in ägyptischer Grammatik und Vorlesungen für klassische Texte für fortgeschrittenere Studierende; das alles ohne Bezahlung, denn bezahlte Stellen gab es damals kaum.

In diese Zeit fiel auf Anregung von Czermak und Thausing die Gründung der "Totenbuch-Runde": Diese bot einer beschränkten Anzahl von interessierten TeilnehmerInnen — als "Initiation" — die regelmäßige Möglichkeit zur Lektüre und Interpretation des altägyptischen Totenbuches und fand im vornehmen Rahmen des Palais Stoneborough-Wittgenstein in der Kundmanngasse 19, einem Paradebau des Jugendstils im dritten Wiener Gemeindebezirk statt. Das Gebäude hatte der Philosoph Ludwig Wittgenstein, Amateurarchitekt und Bruder von Margarethe Stoneborough 1926—1928 unter der bevorzugten Verwendung von Materialien, die auch Adolf Loos schätzte, erbauen lassen. Dr. Jerome Stoneborough wollte sich im amerikanischen Eiltempo die Ägyptologie aneignen; er war voll Begeisterung für das Fach, vielleicht als Ausgleich für finanzielle Verluste aufgrund der damaligen Wirtschaftskrise und der Befürchtung, Europa werde im aufkeimenden Nationalsozialismus untergehen. Kurz nach dem Einmarsch Hitlers in Österreich nahm er sich in Paris das Leben. Aber die Totenbuchrunde lebte in neuer Orientierung weiter, wieder in einem eleganten Ambiente, in Marianne von Werthers Wohnung in der Argentinierstrasse im 4. Wiener Gemeindebezirk. Jede Zusammenkunft wurde mit einem "köstlichen Essen" gekrönt beendet (Thausing 1989: 38). Marianne von Werther hatte begonnen Czermaks ägyptologische Vorlesungen zu besuchen und bald stand sie in einem persönlichen Naheverhältnis zu ihm, dies nicht gerade zur Freude Thausings.

Inzwischen war auch Hermann Junker Direktor des Deutschen Archäologischen Instituts in Kairo und Wilhelm Czermak 1931 Ordinarius für Ägyptologie und Afrikanistik in Wien geworden.

Thausing begann zu publizieren. Ihre erste Arbeit war der philologische Beitrag "Über ein h-Präfix im Ägyptischen" (1932). Es folgten einige andere. Ihr Hauptinteresse galt jedoch der Religion und Religionsphilosophie. Im Laufe der Jahre publizierte sie zu Tod, Auferstehung, Ewigkeitsbegriff, Schicksalsgedanke, Ethik, Magie, Ehrbegriff, Spiralsymbolik, Sargtexte und Totenbuch ebenso wie zur Religion der Spätzeit und Gnosis. Sie erkannte, "daß Totentexte gleichzeitig Initiationstexte sind, daß die gleichen Termini für Tod, Auferstehung und Einweihung verwendet werden, wozu auch die Königskrönung eine Parallele darstellt" (Thausing 1989: 44). Thausing stieg in die Tiefen ägyptischen philosophischen Denkens hinab und erkannte als kardinales Prinzip der doppelt verwendeten Ausdrücke den Seins- und Werdensaspekt, dessen Außenseite der geographische Begriff der beiden Länder und die gesamte Doppelverwaltung ist. Außerdem formulierte sie "wohl als Erste […] Maat als Weltordnung, Ka als Lebenskraft und principium individuationis und Ba als Bewusstseinsprinzip, Cheperu als Seinsformen räumlicher und zeitlicher Prägung" (Thausing 1989: 44). In seinem Nachruf auf Gertrud Thausing hat ihr ehemaliger Schüler und heutige Nachfolger auf dem Lehrstuhl für Ägyptologie in Wien, Manfred Bietak, ihre religionswissenschaftliche Arbeit auf den Punkt gebracht: "Sie vermied Lehrmeinungen, welche namentlich in der deutschsprachigen Ägyptologie vertreten werden, und versuchte die altägyptische Religion phänomenologisch zu erfassen, wobei sie sich auch sehr mit anderen Religionen auseinandersetzte und sich sogar in das tibetanische Totenbuch einführen ließ" (Bietak 1998: 175).

Im Jahr 1943 habilitierte sich Thausing mit der Arbeit Der Auferstehungsgedanke in ägyptischen religiösen Texten und wurde damit nach deutschem Usus "Dr. (phil.) habil.". Den Titel und Rechtsstatus "Dozent" konnte man damals nur erhalten, wenn man vom nationalsozialistischen "Dozentenführer" als parteipolitisch absolut zuverlässig eingestuft wurde. Thausing bekam den Titel erst nach dem Zusammenbruch des NS-Staates unter dem damaligen Rektor der Universität Wien, dem Theologen Gabriel, im wiederhergestellten Österreich verliehen.

Czermak war schon in den letzten Kriegsjahren häufig von Krankheiten geplagt, in den folgenden Jahren immer mehr. Durch eine Herpesinfektion verlor er auf einem Auge die Sehkraft. Immer wieder machte ihm Furunkulose zu schaffen und sein Herzleiden schwächte ihn zusehends. Immer öfter weilte er zur Erholung für längere Zeit im Haus seiner Schwester in Kärnten. So verwundert es nicht, dass Thausing immer mehr Verwaltungsagenden Czermaks übernahm, sogar manche Vereinfachung vorschlug, was der übergenaue Czermak nicht immer goutierte, so dass es immer wieder zum Streit kam, denn die zu große Selbständigkeit Thausings war ihm unangenehm. Trotzdem bestand ihr gemeinsamer Grundkonsens fort und Czermak wollte sie letztendlich als seine Nachfolgerin gesichert wissen, kein einfaches Unterfangen an der Wiener Universität, an der Frauen als Ordinaria nicht besonders gefördert wurden; "ordentlicher Universitätsprofessor", das wurde als Männerdomäne erachtet.

Nach Czermaks plötzlichem Tod im Jahre 1953 bot sich zwar Thausing als Nachfolgerin an und wurde letztlich auch — gegen einige Konkurrenten — vom damaligen Unterichtsminister Kolb zur "außerordentlichen Universitätsprofessorin" und Institutsvorständin bestellt (1954); auf ihre Ernennung zur Ordinaria musste sie jedoch noch lange warten.

Thausing führte die Gedanken Czermaks interpretierend weiter "jede Erscheinungsform geistig-philosophisch […] als Ausdruck übergeordneter Ordnungen" erkennend (Thausing 1989: 93). Parallelen dazu fand sie im Yoga und das I-Ging, das chinesische Buch der Wandlungen, entsprach für sie der ägyptischen Vorstellung des "Cheperu" (= hpr: sein, werden, entstehen, geschehen/dynamisches Seinsverbum). Sie bot Vorlesungen zu Sprache, Schrift (Hieroglyphen, Hieratisch, Koptisch), Geschichte, Kultur- und Kunstgeschichte inklusive Architektur, Malerei und Plastik an. Daneben las Thausing auch die afrikanischen Sprachen Kenzi (eine nubische Sprache) und Ewe. Ewe hatte sie schon während der Kriegszeit für Polizisten gelesen, die zum Einsatz in den ehemaligen deutschen Kolonien, deren Wiedergewinnung der Naziführung sicher schien, bestimmt waren.

Neben den Vorlesungen und der Wahrnehmung der Verwaltungsagenden, veröffentlichte Thausing zwischen 1955 und 1969 fünfzehn wissenschaftliche Abhandlungen in Artikelform und 1969, gemeinsam mit Traude Kerszt-Kratschmann die Monographie Das große ägyptische Totenbuch (Papyrus Reinisch) der Papyrussammlung der Österreichischen Nationalbibliothek. Dabei handelt es sich um eine Übersetzung und Interpretation des von Leo Reinisch 1866 in Luxor erworbenen wunderschönen Papyrus, einem 6 m langen Fragment, dessen andere Hälfte nie aufgetaucht ist. Das Totenbuch stammte aus der 18. Dynastie (um 1500 n. Chr.) und war von einem Mann namens Sesostris (= gräcisierte Form des ägyptischen S-wsr.t; "Mann der Starken"; Uräus-Schlange, die den Pharao beschützt), angefertigt und mit fein ausgeführten Vignetten verziert worden.

Mittlerweile war Österreich, wie andere Länder auch, von der UNESCO zur wissenschaftlichen Mitarbeit am "nubischen Projekt" und zur Rettung der ägyptischen Altertümer vor der Flutung infolge des Baues des Assuan-Staudammes aufgefordert worden. In diesem Zusammenhang wurde das "Österreichische Nationalkommitee zur Rettung der nubischen Altertümer" ins Leben gerufen und Thausing als verantwortliche Generalsekretärin eingesetzt. Sie vertrat Österreich bei der UNESCO in Paris (1958—1960).

Das Wiener Institut für Ägyptologie und Afrikanistik sollte gleichzeitig Grabungen im nubischen Sayala durchführen, mit deren Leitung der Prähistoriker Karl Kromer betraut wurde. Damit wurde die von Hermann Junker begonnene österreichische Grabungstradition von Gertrud Thausing fortgesetzt und Manfred Bietak leitet bis heute erfolgreich Grabungen in Tell el-Daba.

Thausing veröffentlichte noch weitere wissenschaftliche Werke: Sein und Werden. Vesuch einer Ganzheitsschau der Religion des Pharaonenreiches (1971), ein religionswissenschaftliches Werk, Thausings eigentliche Domäne und, gemeinsam mit Hans Goedicke, Nofretari. Eine Dokumentation der Wandgemälde ihres Grabes, eine Arbeit über das Grab der Gemahlin Ramses II.. Ihre letzte Veröffentlichung war Tarudet. Ein Leben für die Ägyptologie (1989), ein sehr persönliches, schwungvoll geschriebenes Buch in der Art einer Doppelbiographie "gleichsam ein Abgesang nicht nur eines erfüllten Gelehrtenlebens, sondern auch der mit ihr über viele Jahre verbundenen Geschichte des Institutes für Ägyptologie (und Afrikanistik bis 1978) der Universität Wien" (Sommerauer 1989: 1).

Thausing gab ihre Position und Würde als Ordinaria äußerst ungern ab. Nicht nur, weil sie erst sehr spät zur Ordinaria berufen wurde, sondern weil sie der festen Überzeugung war, niemand anderer als sie könne das von ihr so geliebte Institut besser führen. Doch auch sie musste emeritieren und sich so dem Zwang des Faktischen fügen.

Im Jahre 1996 erschien ihr zu Ehren noch eine Festschrift mit dem Titel Zwischen den beiden Ewigkeiten. Vom Anfang ihrer Laufbahn an, geradezu verschmolzen in seltener Einheit mit dem Institut, lehrte sie noch mit 91 Jahren und hatte ihren fixen Platz im ehemaligen Vorstandszimmer, dem von Adolf Loos gestalteten Salon, den sie so liebte, immer zu einem freundlichen Gespräch bereit. Oft erzählte sie schillernd von ihren Reisen nach Ägypten, Indien, China und ihrem Traumland Japan, aber auch von ihren obligaten Ferien in Gmunden am Traunsee im Salzkammergut, wo sie im Yachtclub ein hochgeachtetes Mitglied war. Nach einer Tasse Tee in der "Tee-Ecke" des Vorstandszimmers bekundete sie auch manchmal mit schwärmerischen Augen ihr Entzücken beim Hören von Beethovens Werken, besonders der "Sonate 111" mit ihrem zweiten, fast metaphysischen Satz. Eine späte Augenoperation befreite sie von stärkster Kurzsichtigkeit, was sie geradezu als gnadenvolle Wiedergeburt empfand.

Die meisten Menschen suchen das Licht außen und innen. Gertrud Thausing fand das innere Licht in stetem Bemühen um die Erweiterung des Geistes durch vernetztes Wissen, Humor und Kontemplation. Ihre Weltoffenheit zog magisch in Bann und bleibt vielen Studenten und Mitarbeitern in dankbarer Erinnerung.

BIBLIOGRAFIE

Bietak, Manfred (1998): Nachruf auf Gertrud Thausing (1905—1997). In: Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien 128: 175—177

Bietak, Manfred/Holaubek, Johanna/Mukarovsky, Hans/ Satzinger, Helmut, Hg. (1996): Zwischen den beiden Ewigkeiten. Festschrift Gertrud Thausing. Wien

[In dieser Festschrift befindet sich ein vollständiges Werkeverzeichnis von Gertrud Thausing]

Sommerauer, Erich (1989): Rezension. Thausing, Gertrud (1989): Tarudet. Ein Leben für die Ägyptologie. Graz (unveröffentlicht)

Thausing, Gertrud (1961): Heiß umstrittenes Nubien. Der Wettlauf der Nationen zur Rettung seiner Denkmäler. In: Wissenschaft und Weltbild Juni-Heft: 143—147

Thausing, Gertrud (1971): Sein und Werden. Versuch einer Ganzheitsschau der Religion des Pharaonenreiches. Wien

Thausing, Gertrud (1989): Tarudet. Ein Leben für die Ägyptologie. Graz

Thausing, Gertrud/Goedicke, Hans (1971): Nofretari. Eine Dokumentation der Wandgemälde ihres Grabes. Graz

Thausing, Gertrud/Kerszt-Kratschmann, Traude (1969): Das große ägyptische Totenbuch (Papyrus Reinisch) der Papyrussammlung der Österreichischen Nationalbibliothek. Kairo

verfasst von: Erich Sommerauer

letzte Änderung: 29.01.2010

zu zitieren nach:

Sommerauer, Erich (2010): Gertrud Thausing. Verfügbar unter

http://www.afrikanistik.at/pdf/personen/thausing_gertrud.pdf (Zugriff Datum, Seite)

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