Kurz nach seiner Habilitation 1932 an der Universität Wien nahm mein Vater Ernst Zyhlarz im selben Jahr das Angebot des Afrikanisten Carl Meinhof an, zu ihm ans Afrikanische Seminar der Universität Hamburg überzuwechseln.
Die Bekanntschaft und spätere enge Freundschaft mit Kita Tschenkéli entstand zuerst über die russische Sprache: Meine Mutter stammte aus Irkutsk in Sibirien, war 1925 nach Deutschland emigriert und lebte bei ihrer Schwester und deren deutsch-jüdischem Ehemann zuerst in Berlin und ab 1934 in Hamburg; hier lernte sie einige Zeit später meinen Vater kennen. Neben seiner Tätigkeit am Afrikanischen Seminar hielt Ernst Zyhlarz auch Vorlesungen im Fach Ägyptologie an der Hamburger Volkshochschule, wo Kita Tschenkéli als Russisch-Lektor arbeitete; und so ergab sich der Kontakt zwischen ihnen fast wie von selbst.
Kita Tschenkéli hatte ursprünglich in Halle/Saale studiert und wurde nach der Sowjetisierung Georgiens 1921 plötzlich zum staatenlosen Ausländer (mit einem so genannten Nansen-Pass). Er ging in erster Linie deswegen nach Hamburg, weil er hoffte, sich die nötigen finanziellen Mittel für sein weiteres Studium dort leichter beschaffen zu können als in der sächsischen Provinz — und dies in einer Zeit der Weltwirtschaftskrise, zunehmender Inflation und Massenarbeitslosigkeit sowie des aufkommenden Nationalsozialismus. Eine Rückkehr nach Georgien war ihm aus politischen Gründen verwehrt. Viele seiner nächsten Familienangehörigen wurden im Verlauf der weiteren Jahre direkt oder indirekt Opfer des stalinistischen Terrors. Sein zweitältester Bruder Akaki Tschenkéli (langjähriger Abgeordneter Georgiens in der russischen Duma, 1918 zeitweiliges Staatsoberhaupt, dann Außenminister und später Botschafter der Ersten Republik Georgien in Frankreich) weigerte sich ebenfalls, nach der sowjetischen Besetzung 1921 wieder nach Georgien zurückzukehren, und blieb in Frankreich. Während der Zeit der "Säuberungen" und Schauprozesse in der Sowjetunion wurde auf Akaki Tschenkéli (vermutlich auf persönlichen Befehl von Lawrenti P. Berija) in Paris ein Mordanschlag verübt, der aber misslang; er starb 1959 eines natürlichen Todes.
Der Erste, der das didaktische Talent Kita Tschenkélis erkannte, die georgische Sprache allgemeinverständlich zugänglich zu machen, war Ernst Zyhlarz. Er hatte während seines Orientalistikstudiums in Wien u.a. versucht, bei dem damals sehr bedeutenden Linguisten Nikolai Sergejewitsch Trubezkoi (1890—1938) Georgisch zu lernen, musste dieses Vorhaben aber nach knapp einem Jahr wieder aufgeben, weil es ihm nicht gelungen war, die Struktur dieser Sprache für sich zu erschließen. Und nun genügten einige wenige Erläuterungen durch Kita Tschenkéli, um aufzuzeigen, dass Georgisch auch für Menschen aus dem abendländisch-westlichen Kulturkreis erlernbar ist. Es war nur logisch, dass aus dieser positiven Erfahrung heraus die Idee entstand, ein Grammatik-Lehrbuch zu konzipieren, das der "europäischen" Denkweise entspricht. Die anfänglich sehr großen und berechtigten Hoffnungen auf die Errichtung eines Lehrstuhls für Georgisch an der Universität Hamburg wurden aber bald nach Beginn des 2. Weltkriegs zunehmend ungewisser.
Stattdessen wurden plötzlich deutsche Wehrmachtstellen auf Kita Tschenkéli aufmerksam. Seit dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 wusste man, dass ein Sohn Stalins, Jakub Dschugaschwili, als Offizier in der Roten Armee diente; man versuchte mit allen Mitteln, seiner habhaft zu werden, um ihn als Geisel für den Austausch mit deutschen Kriegsgefangenen zu benützen. Kita Tschenkéli wurde nun dazu gezwungen, in regelmäßigen Zeitabständen ins KZ Neuengamme bei Hamburg zu fahren, wo sich unter anderem auch ein Lager für sowjetische Kriegsgefangene befand; hier musste er aus den Gefangenenlisten alle diejenigen Personen mit georgischen Familiennamen "aussortieren", die möglicherweise nähere Hinweise auf Jakub Dschugaschwili hätten geben können. Nach den Befragungen bzw. Verhören, bei denen Kita Tschenkéli als Dolmetscher fungierte, wurden diese Gefangenen dann in ein Sonderlager auf der Insel Texel vor der holländischen Küste gebracht. Kita Tschenkéli musste sich unter Strafandrohung zum Schweigen über seine Tätigkeit im KZ Neuengamme verpflichten. Was er jedoch während seines dortigen Aufenthalts vom Fenster seines Arbeitsraumes aus an Gräueltaten gegenüber den Kriegsgefangenen und den übrigen Häftlingen mit ansehen musste, belastete und traumatisierte ihn seelisch sehr stark. In dieser Atmosphäre der ständigen Angst vor Bespitzelung und Denunziation durch vermeintlich harmlos-freundliche Mitmenschen waren meine Eltern die einzigen, mit denen er über seine Erlebnisse in Neuengamme offen sprechen konnte. Im Sommer 1943 begannen die berüchtigten Luftangriffe durch die britische Bomberflotte auf Hamburg. Bei einem dieser Angriffe wurde auch das Haus an der Rothenbaumchaussee getroffen, in dem Kita Tschenkéli unweit von meinen Eltern wohnte, und brannte völlig aus. Er selbst war zu jener Zeit für mehrere Tage bei seinem ehemaligen Schweizer Studienkollegen Fritz Zwicky und dessen Familie in der Nähe von Hannover zu Besuch. Nach seiner Rückkehr nach Hamburg entdeckte er dann das volle Ausmaß des Schadens, den er erlitten hatte: Sein gesamtes wissenschaftliches Werk mit allen Unterlagen für den vorbereiteten Druck seiner georgischen Grammatik war unwiederbringlich vernichtet. Kita Tschenkéli wusste um die Gefahr, in der er sich befand, dass er als (unfreiwilliger) Mitwisser der Vorgänge im KZ Neuengamme früher oder später verhaftet und "eliminiert" werden könnte. Er hatte miterlebt, wie die Schwester meiner Mutter sich gemeinsam mit Mann und zwei Kindern im Sommer 1938 im allerletzten Moment der Verhaftung durch die Gestapo und der bevorstehenden Deportation in ein Konzentrationslager entziehen konnte und nach Belgrad flüchtete, von wo sie mit einem amerikanischen Visum via Triest in die USA gelangten. Daher entschloss er sich zur Flucht aus Deutschland, solange ihm dies zeitlich noch möglich war.
Dank der guten Beziehungen F. Zwickys zum Schweizer Konsulat erhielt Kita Tschenkéli als politischer Flüchtling ein Einreisevisum in die Schweiz und verließ Deutschland im März 1945 auf teilweise recht abenteuerlichen Wegen: am Anfang auf einem Fahrrad, dann versteckt unter der Ladung verschiedener Lastwagen — in der ständigen Furcht vor Bombenangriffen und in der Angst, von Polizei oder Gestapo entdeckt zu werden. Meine Eltern wussten lange Zeit nicht, ob Kita Tschenkélis Flucht wirklich gelungen war. Erst im September 1946 kam aus Zürich das erste Lebenszeichen von ihm.
Der Neuanfang in der Schweiz war äußerst schwierig und war geprägt von materieller Not. Der Freund Fritz Zwicky war inzwischen mit seiner Familie aus Deutschland in die Schweiz zurückgekehrt, und Kita Tschenkéli konnte fürs erste bei ihm in seinem Haus in Zürich-Höngg wohnen. Später stellten die Schwester Fritz Zwickys und ihr Mann ihm eine Wohnung in ihrem Haus an der Theaterstrasse in Zürich (direkt gegenüber der Neuen Zürcher Zeitung) zur Verfügung, in der er bis zu seinem Tod lebte und arbeitete. In seinem Bericht mit dem Titel "Pro Memoria" beschreibt Kita Tschenkéli sehr anschaulich, mit welchen Schwierigkeiten er zu kämpfen hatte, bis er seine wissenschaftliche Tätigkeit wieder aufnehmen und fortsetzen konnte. Noch während der Zeit, in der er seine Einführung in die georgische Sprache rekonstruierte, publizierte er 1953 in der Zeitschrift Neue Schweizer Rundschau den Text der georgischen Legende "Schönheit", den er zusammen mit seiner vormaligen Schülerin Ruth Neukomm ins Deutsche übersetzt hatte.
1957 brachte der Zürcher Manesse-Verlag die Übersetzung des georgischen Versepos "Wisramiani" heraus, die ebenfalls in Zusammenarbeit mit Ruth Neukomm entstanden war.
1958 konnte dann endlich die zweibändige Einführung in die georgische Sprache erscheinen, diesmal im eigens dafür gegründeten Amirani-Verlag. Dieses Lehrbuch ist bis heute ein Standardwerk für georgische Grammatik.
Ab 1960 wurden die ersten Faszikel des Georgisch-Deutschen Wörterbuches in regelmäßiger Folge gedruckt, wobei sich Kita Tschenkéli ganz besonders auf seinen Mitarbeiterinnenstab Ruth Neukomm, Lea Flury und Yolanda Marchev stützen konnte. Ruth Neukomm hatte ihre ursprüngliche Tätigkeit beim Manesse-Verlag aufgegeben, um sich gemeinsam mit Yolanda Marchev voll auf die Arbeit am Wörterbuch zu konzentrieren. Lea Flury (sie stand Kita Tschenkéli persönlich am nächsten, und sie hat er später testamentarisch als seine Alleinerbin eingesetzt) war spezialisiert auf die Bedienung der komplizierten Druckmaschine, die eigens aus den USA importiert worden war.
Im selben Jahr 1960 wurde Kita Tschenkéli in Zürich eingebürgert und erhielt im April 1961 die Ehrendoktorwürde der Universität Zürich. Einer der weiteren Ehrendoktoren in jenem Jahr war der amerikanische Schriftsteller Thornton Wilder. Mitten in der Arbeit zum Wörterbuch erkrankte Kita Tschenkéli plötzlich schwer und starb 1963 völlig unerwartet. Seine drei Mitarbeiterinnen beschlossen, das angefangene Werk, von dem erst ein Band erschienen war, mit den geplanten zwei weiteren Bänden zu vollenden. Es grenzt fast an ein Wunder, dass ihnen dieses Vorhaben gelungen ist — 1974 erschien der dritte und letzte Band des Georgisch-Deutschen Wörterbuches.
Im Dezember 1974 wurden Lea Flury, Yolanda Marchev und Ruth Neukomm "für ihren jahrzehntelangen Einsatz als Herausgeberinnen des Georgisch-Deutschen Wörterbuches mit einer Ehrengabe aus dem Kulturkredit des Kantons Zürich ausgezeichnet.
Yolanda Marchev — bis zu ihrer Pensionierung als Nachfolgerin von Kita Tschenkéli Lehrbeauftragte für Georgisch an der Universität Zürich — veröffentlichte 1986 im Amirani-Verlag, der weiterhin von Lea Flury geleitet wurde, die wissenschaftliche Schrift Die Morpheme der georgischen Sprache. Versuch einer Strukturanalyse. 1999 erschien ihr Deutsch-Georgisches Wörterbuch im Kaukasus-Verlag.
Ruth Neukomm übersetzte und publizierte drei weitere Bücher, die alle ebenfalls im Manesse-Verlag erschienen: 1970 Georgische Erzähler der neueren Zeit, 1974 Schota Rustaweli — Der Mann im Pantherfell, 1990 Akaki Zereteli — Aus meinem Leben. Daneben schrieb sie eine ganze Reihe Essays über georgische Literatur u.a. für die Neue Zürcher Zeitung und Texte für Radio-Produktionen des deutschen Senders SWR 2.
Sie starb 2001 im 81. Lebensjahr.
* verfasst von: Katja Post-Zyhlarz, Zürich, im Januar 2007
letzte Änderung: 29.01.2010
zu zitieren nach:
Post-Zyhlarz, Katja (2010): Kita Tschenkéli. Verfügbar unter
http://www.afrikanistik.at/pdf/personen/tschenkeli_kita.pdf (Zugriff Datum, Seite)