Ernst Zyhlarz (1890-1964) |
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Afrikanist, geb. 1890, gest. 1964.
Die folgenden verschriftlichten Erinnerungen von Katja Post-Zyhlarz an ihren Vater Ernst Zyhlarz wurden dem Projekt "Geschichte der Afrikanistik in Österreich" am 17. März 2008 von der Verfasserin persönlich zur Veröffentlichung auf der web-page www.Afrikanistik.at zur Verfügung gestellt. Ernst Zyhlarz (1890-1964) - Erinnerungen an einen "unangepassten" Menschen ERINNERUNGEN AN EINEN "UNANGEPASSTEN" MENSCHEN (*VON KATJA POST-ZYHLARZ) Den allerersten Kontakt zum Orient erlebte mein Vater auf recht banale Weise: durch die Lektüre der Abenteuerromane von Karl May, die er als Kind heimlich las, weil diese Art Bücher in den gutbürgerlichen Kreisen im damaligen Österreich der Jahrhundertwende, in denen er aufwuchs, als "Schundliteratur" verpönt waren. Als 15-jähriger Gymnasiast begann Ernst Zyhlarz sich immer mehr für fremde Sprachen zu interessieren und nahm neben dem obligaten Griechisch und Latein Privatunterricht in Arabisch, zwei Jahre später dazu noch Hebräisch. Aus der Faszination für das Judentum entwickelte sich dann allmählich der Wunsch, zum jüdischen Glauben zu konvertieren, was er ca. 1910 auch offiziell tat. Seine verwitwete Mutter (der Vater war bereits 1896 an einer Lungenentzündung gestorben) und die übrige Verwandtschaft waren über diese Entscheidung alles andere als begeistert und setzten durch, dass er seinen Religionswechsel wenigstens in seinen Personalpapieren nicht ändern ließ und nach außen weiter als "römisch-katholisch" galt. Nach der Matura (Abitur) absolvierte Ernst Zyhlarz seinen Militärdienst als so genannter Einjährig-Freiwilliger und wurde dabei zeitweilig nach Galizien in die Nähe von Lemberg versetzt. In seiner Freizeit lernte er Jiddisch und befasste sich intensiv mit der geistigen Kultur des Ostjudentums, die später während des 2. Weltkriegs auf so entsetzliche Weise vernichtet wurde. Ich erinnere mich noch gut daran, wenn mein Vater mir und meinem jüngeren Bruder seine Begegnungen mit "Wunder-Rabbis" oder anderen bemerkenswerten Persönlichkeiten schilderte — Menschen, wie man sie nur noch von Bildern des russischen Fotografen Roman Vishniac aus den 1930er Jahren kennt. Ernst Zyhlarz, der sehr gut zeichnen konnte, hatte seine Eindrücke von damals in vielen Skizzen festgehalten, und sie zeigten sehr ähnliche Szenen wie in Vishniacs bekanntem Fotowerk von 1983. Im letzten Monat seiner Dienstzeit wurde mein Vater zur Bewachung der kaiserlichen Privatgemächer in der Wiener Hofburg abkommandiert, was er als frischgebackener Offizier als hohe Auszeichnung empfand. Zwei von meines Vaters Lieblingsbüchern waren später Jaroslav Haseks Schwejk, den er im tschechischen Original las, und Joseph Roths Radetzkymarsch, weil die damalige k.u.k.-Realität seiner Meinung nach in ihnen am authentischsten beschrieben wird. Nach Beendigung seines Militärdienstes immatrikulierte sich Ernst Zyhlarz in seiner Heimatstadt Wien an der Juristischen Fakultät und stand kurz vor dem Abschluss seines Studiums, als der 1. Weltkrieg begann. Er wurde für die ganze Kriegsdauer von 1914 bis 1918 eingezogen und hat einen Teil dieser Zeit wiederum in Galizien zugebracht. Die Erlebnisse an der Front hinterließen bei ihm viele seelische Narben und ein schweres Knalltrauma, das sein Hörvermögen mit zunehmendem Alter immer stärker beeinträchtigte. Der Zusammenbruch der Donaumonarchie und die Ungewissheit über die politische Zukunft waren ein zusätzlicher tiefer Einschnitt im Leben meines Vaters (und vieler seiner Zeitgenossen); ein Einschnitt, dessen Ausmaß aus heutiger Sicht kaum mehr vorstellbar ist — aus einer jahrhundertealten Großmacht wurde plötzlich ein völlig verarmter Kleinstaat. Weltwirtschaftskrise, Inflation und Massenarbeitslosigkeit verschärften die Lebenslage vieler Menschen noch mehr. 1918/19 wechselte Ernst Zyhlarz an die Philosophische Fakultät und entschied sich für das Studium der Ägyptologie bei Hermann Junker (1877—1962), seinem verehrten Mentor und Doktorvater. Im Januar 1919 heiratete er; aus dieser Ehe stammen die zwei Söhne Ernst jr. und Gerhard. Eine kleine Erbschaft, die ihm nach dem Tod seiner Großmutter zufiel, verschaffte ihm für einige Zeit eine gewisse finanzielle Unabhängigkeit, denn die materiellen Aussichten in seinem Beruf waren nicht besonders rosig. Seine damalige Ehefrau trug durch ihre Mitarbeit im Hotel ihrer Eltern wesentlich zum Familieneinkommen bei. Während seines Studiums besuchte Ernst Zyhlarz als Gasthörer auch Vorlesungen des Arztes und Psychologen Sigmund Freud, den er ebenfalls sehr verehrte und wohl auch persönlich kannte. Freuds Foto (zusammen mit den Bildern meiner beiden Halbbrüder) auf dem Schreibtisch meines Vaters ist eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen. "Professor Freud" gehörte quasi zur Familie und seine Werke in der umfangreichen väterlichen Büchersammlung durfte ich schon als Halbwüchsige ohne Einschränkung lesen; hauptsächlich deswegen, weil mein Vater mir Freuds schönen und klaren deutschen Sprachstil nahebringen wollte. Bei meinen späteren Recherchen für die Bibliographie der wissenschaftlichen Arbeiten von Ernst Zyhlarz habe ich das einzige noch vorhandene Exemplar seiner Dissertation von 1921 aus Wien zur Ansicht bekommen. Sie war von Hand auf Papier schlechter Nachkriegsqualität geschrieben, weil mein Vater sich damals keine Schreibmaschine leisten und auch die Kosten für einen Druck nicht aufbringen konnte. Die letzten sechs der insgesamt 46 Seiten sind teilweise nicht mehr lesbar und haben starke Wasserflecken; wahrscheinlich sind es Spuren von Löschwasser aus der Zeit des 2. Weltkriegs, als Wien bombardiert wurde. Im Juni 1930 erfolgte die Habilitation, im Januar 1931 dann die "Zulassung als Privatdozent für afrikanische Sprachen mit besonderer Berücksichtigung des hamitischen Sprachstammes" und danach der Wechsel von Wien nach Hamburg ans Afrikanische Seminar zu Carl Meinhof (1857—1944). Die Familie meines Vaters blieb weiterhin in Österreich. Der Afrikanist Ernst Dammann (1904—2003) hat mir in einem Brief vom Juni 1983 über die damalige Zeit folgendes geschrieben: "[…] Bevor Klingenheben nach Leipzig ging, war er ‚wissenschaftlicher Hilfsarbeiter’ am Seminar für afrikanische und Südseesprachen der Universität Hamburg. Dies war damals etwa das, was man heute ‚Assistent’ nennt. Dies waren etatsmässige Stellen im Sinne eines Angestellten. Darüber hinaus konnte man sich habilitieren und gehörte dann zum Lehrkörper der Universität als Privatdozent und wurde dann in der Regel nach einigen Jahren zum nichtbeamteten ausserordentlichen Professor ernannt. Als solcher hatte man nur die Einnahmen der sog. Kolleggelder, etwa DM 20.- [vermutlich meinte er RM = Reichsmark] im Semester. In diese Doppelstellung trat Ihr Vater in Hamburg ein. Er verdiente also sein Geld als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter. […]" Dass Ernst Zyhlarz sich im Laufe der Zeit in Kollegenkreisen teilweise nicht sehr beliebt machte, lag wohl nicht nur an den Mentalitätsunterschieden zwischen Süd und Nord, sondern auch an seinem schwierigen Charakter: Er war undiplomatisch, aufbrausend und voller Spottlust, wenn er mit Begriffsstutzigkeit oder Dummheit konfrontiert wurde. Mit seiner anfangs offen gezeigten Sympathie für alles Jüdische eckte er vermutlich ebenfalls bei einer ganzen Reihe von Leuten an, für die der aufkommende Nationalsozialismus zur politischen Heimat geworden war. Und sein unverkennbarer Wiener Tonfall, seine Sprache mit Anklängen an das Bühnendeutsch des Schriftstellers Arthur Schnitzler machten ihn möglicherweise zusätzlich zu einem "Exoten". Ich weiß nicht, ob Carl Meinhof oder die übrigen Mitarbeiter am Afrikanischen Seminar darüber informiert waren, dass Ernst Zyhlarz zur jüdischen Religion konvertiert war. Es könnte durchaus sein, dass sie zwar einen gewissen Verdacht, aber keine konkreten Beweise dafür hatten. Meine Eltern lernten sich um das Jahr 1935 herum in Hamburg kennen. Meine Mutter Nadeschda I. Goróchowa war Sibirierin mit baltisch-russischen Wurzeln mütterlicherseits und eurasisch-jüdischen Wurzeln väterlicherseits. Die meisten ihrer Familienangehörigen waren während der russischen Oktoberrevolution und im darauffolgenden Bürgerkrieg umgekommen oder starben später während der deutschen Belagerung Leningrads 1941/44. Sie war 1925 aus Irkutsk nach Deutschland emigriert und lebte bei ihrer älteren Schwester Musa, die mit einem deutschen Großhandelskaufmann namens Wilhelm Nathanson verheiratet war; er stammte aus einer alteingesessenen Familie assimilierter so genannter Taufjuden aus Königsberg in Ostpreußen, war Offizier im 1. Weltkrieg gewesen und wurde erst während der NS-Zeit in die Position eines "Volljuden" hineingezwungen. Meine Eltern sprachen später oft über jene Zeit und die immer schlimmer werdenden Schikanen gegen die jüdische Bevölkerung: über den Hinauswurf meines 16-jährigen Vetters Heinrich Nathanson aus dem Hamburger Johanneum; über die Aussichtslosigkeit meiner 18-jährigen Cousine Monika Nathanson, trotz eines hervorragenden Handelsschulabschlusszeugnisses eine Anstellung zu bekommen; über die Bespitzelung der Familie Nathanson durch Nachbarn im Haus am Mittelweg/Ecke Milchstrasse, die jeden Besucher bei den Nathansons an die Gestapo meldeten; über die vielen Rügen, die mein Vater seitens der Universitätsverwaltung wegen seiner Kontakte zu den Nathansons einstecken musste; über den erzwungenen Wechsel in die wesentlich kleinere Wohnung im Haus am Hallerplatz 1; über die "Arisierung" der Firma Wilhelm Nathansons, was für ihn bedeutete, dass er sein gutgehendes Getreidehandelsunternehmen seinem ärgsten Konkurrenten für einen symbolischen "Kaufpreis" überlassen musste; über die misslungene Gestapo-Razzia zwecks Verhaftung Wilhelm Nathansons und dessen überstürzte Flucht aus Deutschland samt Frau und Kindern im Sommer 1938. In dem Moment, da die Familie dann an Bord des Schiffes war, das sie nach Seattle/USA brachte, sprach mein Vetter Heinrich kein einziges deutsches Wort mehr, sondern verständigte sich nur noch auf Englisch — seine Heimat war für ihn sozusagen gestorben. Einer der genauesten Chronisten der Jahre 1933 bis 1945 in Deutschland war der Romanist Victor Klemperer (1881—1960). Seine Schilderungen entsprechen in vielen Einzelheiten dem, was meine Eltern damals auch erlebt hatten. Mein Vater, für den ein Universitätsgebäude als etwas ähnlich Unantastbares galt wie das Innere einer Kirche, musste es zum Beispiel mehrere Male widerspruchslos hinnehmen, dass jüdische Studenten von Polizisten mitten aus seiner Vorlesung herausgeholt und verhaftet wurden und nie wieder zurückkamen. Spätestens seit dem so genannten Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich im Jahr 1938 musste mein Vater damit rechnen, dass seine Zugehörigkeit zur jüdischen Religion den Behörden früher oder später gemeldet werden könnte. Die Angst vor Entdeckung prägte von nun an sein weiteres Leben. Er begann, sich immer mehr von seinen Kollegen abzukapseln und schirmte sein Privatleben ab, vor allem seit der Flucht der Familie Nathanson; er und meine Mutter hatten inzwischen deren Wohnung im Hallerhaus als Nachmieter übernommen. Sie wurden mehrmals von der Polizei verhört, konnten aber den Verdacht der Mitwisserschaft irgendwie ausräumen. Eine besonders brenzlige Situation entstand, als Ernst Zyhlarz im Oktober 1940 plötzlich einen Einberufungsbefehl nach Berlin bekam, "zwecks Ableistung des aktiven Militärdienstes". Meine Mutter, die damals seit einem Jahr mit meinem Vater verheiratet war, stand in den darauffolgenden 36 Tagen große Ängste aus, dass man spätestens jetzt bei der sanitarischen Musterung meines Vaters (er war beschnitten) seine jüdische Identität entdecken würde; die entsprechenden Konsequenzen wären klar gewesen. Aber anscheinend wurden bei Offizieren keine derart genauen militärärztlichen Untersuchungen gemacht. Mein Vater überstand diese Wochen der Ungewissheit ohne größere Probleme und wurde am Ende in eine "Dolmetscher-Ersatz-Kompanie" eingeteilt, die für einen späteren Afrika-Einsatz der deutschen Wehrmacht vorgesehen war. Als meine Eltern 1939 nach der Scheidung meines Vaters von seiner ersten Frau heiraten wollten, verlangte das Standesamt von meiner Mutter u.a. einen Arier-Nachweis; weil sie den nicht liefern konnte, sollte sie ein anthropologisches Gutachten mittels Schädelmessung einreichen. Mein Vater hatte sich vorher eines jener Bücher besorgt, die sich mit der Lehre von der Anthropometrie befassen und damals in jeder Buchhandlung erhältlich waren, und dazu noch eine Art Zirkel, mit dem der menschliche Schädel ausgemessen werden konnte. Seine ermittelten Werte zeigten deutlich, dass meine Mutter rassisch gesehen mindestens als "Dreiviertel"-Jüdin einzustufen war und deswegen keine Heiratserlaubnis bekommen würde. Der Anthropologie-Professor, der das Gutachten dann anfertigen sollte, war ein leicht zerstreuter und etwas überarbeitet wirkender alter Mann. Meine Mutter stellte ihm absichtlich viele laienhafte Fragen und verwirrte ihn bei seinen Messungen so sehr, dass sein offizielles Gutachten sie am Schluss als "eindeutig der nordischen Rasse zugehörig" bezeichnete. Es waren die so genannten Nürnberger Rassengesetze von 1935 und die abstrusen Theorien über das "Untermenschentum", die Ernst Zyhlarz derart in Rage brachten. Die geistige Borniertheit der Verfechter dieser Ideen stachelte ihn zu einem immer bissiger werdenden Spott an, mit dessen Folgen er sich im Nachhinein selbst am meisten geschadet hat. Dieser fast zwanghafte Hang zu Ironie und Überzeichnung war der eigentliche Grund dafür, warum er seine wissenschaftlichen Arbeiten teilweise mit einem rassistischen Unterbau ausschmückte. In seinem Hass auf das NS-System benützte Ernst Zyhlarz aber auch noch eine andere Methode, und zwar tat er dies ganz besonders gern bei seinen Volkshochschul-Vorlesungen im Fach Ägyptologie: Er griff zum Beispiel einen Aspekt aus der damaligen aktuellen Tagespolitik auf und baute ihn in verklausulierter Form so in die Geschichte Alt-Ägyptens ein, dass man erst bei genauem Hinhören merkte, in welche Richtung die eigentliche Kritik zielte. Wie weit er dabei jeweils mündlich von seinem Manuskript abwich, weiß ich nicht. Meine Mutter hat mir später erzählt, dass sie bis Kriegsende ständig in der Angst gelebt habe, dass mein Vater sich irgendwann "um Kopf und Kragen reden" würde. Diese Vorlesungen waren anscheinend recht gut besucht, und es kam mehr als einmal vor, dass in der ersten Reihe gut sichtbar Gestapo-Angehörige saßen und sich Notizen machten. Ende der 1930er/Anfang der 1940er Jahre forderte der damalige Rektor (Wilhelm Gundert? Eduard Keeser?) meinen Vater auf, endlich Mitglied der NSDAP zu werden — er sei praktisch der Einzige im Afrikanischen Seminar, der es noch nicht sei; aber mein Vater weigerte sich. Der Rektor ließ monatelang nicht locker und teilte ihm eines Tages mit, dass er den Aufnahmeantrag im Namen meines Vaters ausgefüllt und abgeschickt habe. Ernst Zyhlarz befand sich in einem Dilemma: Würde er diesen Antrag nämlich nachträglich zurückziehen, würde er unter Umständen die Kündigung seiner Anstellung riskieren und damit seine finanzielle Existenz verlieren. In einer Emigration ins Ausland sah er weder für sich noch für meine Mutter eine Lösung. Er nahm Kontakt auf zu einem Psychiater (dessen Namen ich nicht kenne) und ließ sich von ihm ein Gutachten erstellen, in dem Ernst Zyhlarz bescheinigt wurde, dass er "politisch nicht zurechnungsfähig" sei. Dieses Gutachten sollte eigentlich nur dazu dienen, meinem Vater mögliche Unannehmlichkeiten wegen des teilweise bewusst polemischen Inhalts seiner Vorlesungen zu ersparen, erwies sich jedoch nach Kriegsende als unbeabsichtigter Bumerang. Obwohl auch heutzutage manchmal noch behauptet wird, dass die Bevölkerung damals weder von der Existenz von Konzentrationslagern noch von den Gräueltaten der deutschen Wehrmacht im besetzten Osteuropa etwas gewusst habe, lässt sich dies so nicht verallgemeinern. Von 1941/42 an hatten meine Eltern beispielsweise über den Freund unserer zeitweiligen Haushaltshelferin, welcher als Soldat in Russland stationiert und in Hamburg auf Heimaturlaub war, davon erfahren, dass SS-Truppen sich gemeinsam mit Wehrmachtsangehörigen regelmäßig an Massenerschießungen jüdischer Zivilisten beteiligten. Der Linguist Kita Tschenkéli (1895—1963), Dozent für Russisch und Georgisch an der Universität Hamburg und Freund meines Vaters, wurde zwangsverpflichtet, im KZ Neuengamme bei Hamburg als Dolmetscher bei den Verhören sowjetischer Kriegsgefangener zu fungieren. Die grauenvollen Zustände, die er dabei dort zu sehen bekam und über die er nur mit meinen Eltern sprechen konnte, traumatisierten ihn für den Rest seines Lebens (mehr zu Tschenkéli vgl. Post-Zyhlarz 2010: 1—3). Unmittelbar nach den ersten Luftangriffen der britischen Bomberflotte im Juni 1943 auf Hamburg erlitt mein Vater einen Nervenzusammenbruch. Ich kann mich noch gut an die Szenen im Luftschutzkeller erinnern, wenn die Erwachsenen während der Bombardierungen in ihrer Panik anfingen zu schreien und uns kleine Kinder dadurch noch mehr erschreckten. Am 9. August 1943 bekam mein Vater von der Hochschulverwaltung der Hansestadt Hamburg die folgende Mitteilung: "Herrn Professor Dr. Ernst Zyhlarz wird die Genehmigung erteilt, seinen Wohnsitz in Hamburg, Grindelhof 91, auf Grund ärztlichen Attestes zwecks Abreise nach Ostmark N.D. Horn auf die Dauer von 1 Monat zu verlassen. Da Professor Dr. Zyhlarz dem Lehrkörper der Hansischen Universität angehört und diese weiterarbeitet, ist seine Rückkehr nach Hamburg zwecks Wahrnehmung seiner dienstlichen Tätigkeit erforderlich." Die Stadt Horn war der frühere Wohnort meines Vaters in Niederösterreich; dort lebte seine Mutter, bei der meine Eltern und ich einen Monat lang wohnen und uns erholen durften. Meine Mutter war damals mit meinem jüngeren Bruder Igor schwanger, und wahrscheinlich hat diese Tatsache die "Ausreise-Erlaubnis" erleichtert. Ich bin dreisprachig aufgewachsen — mit Russisch, Deutsch und Tschechisch — durfte aber bis Kriegsende weder zu Hause noch außerhalb unserer Wohnung Deutsch sprechen; meine Eltern befürchteten, dass ich mich in Gegenwart Anderer verplappern könnte und aufgeschnappte Gesprächsfetzen verraten würde (z.B. den Ausdruck "Gröfaz", der eine Spottbezeichnung Hitlers war, oder "Schrumpfgermane" als Spitzname für den hinkenden Goebbels); oder dass ich irgendjemandem erzählen könnte, dass meine Eltern regelmäßig die Sender BBC und RADIO MOSKAU hörten, was bei Todesstrafe verboten war. In Österreich bei meiner Großmutter und den übrigen Verwandten durfte ich dann aber zum ersten Mal so sprechen wie mir der Schnabel gewachsen war. 1944 starb Carl Meinhof. Ich kann mich recht gut an diesen zierlichen weißhaarigen, weißbärtigen Mann erinnern und an die ausgesuchte Höflichkeit meines Vaters ihm gegenüber, wenn beide miteinander redeten. Oder an die Afrikanistin "Fräulein Doktor" Emmy Meyer, verheiratete Kähler-Meyer (1903—1998), Meinhofs ehemalige Sekretärin, die mir stets ein wenig schüchtern erschien. Oder an Walther Aichele (1889—1971), Professor für indonesische Sprachen und Kulturen, der 1926 eine Sammlung mit "Zigeuner"-Märchen herausgegeben hatte und aussah wie ein Asiat. Der ohnehin nicht besonders große Freundes- und Bekanntenkreis meiner Eltern war im Laufe der Jahre immer kleiner geworden, hauptsächlich darum, weil sehr viele dieser Menschen jüdischer Herkunft waren. Ich hörte immer öfter das Wort "KZ" und wusste, was es bedeutet. Ein Ereignis aus jener Zeit löst bei mir auch heute noch gelegentlich Albträume aus: Irgendwann zwischen 1944 und Anfang 1945 wurde ein Nachbar aus der Wohnung unter uns — er war kriegsinvalid und hatte nur noch ein Bein — frühmorgens verhaftet und weggebracht; dieser Mann hatte während einem der letzten Luftangriffe im Luftschutzkeller laute Zweifel am so genannten Endsieg geäußert und war daraufhin anscheinend von anderen Nachbarn angezeigt worden. Seine Verhaftung erfolgte unter fürchterlichem Lärm und Geschrei, weil er über den Balkon flüchtete, in den Garten hinuntersprang und sich dabei sein gesundes Bein brach. Wenige Tage später wurden auch seine Frau und sein halbwüchsiger Sohn verhaftet, und alle drei Personen blieben danach verschwunden. Ab Mai 1945 stand die Universität Hamburg unter Verwaltung der britischen Militärbehörden, und für Ernst Zyhlarz begann eine Zeit, die man heutzutage am ehesten als "Mobbing" bezeichnen würde. Aufgrund etlicher belastender Aussagen von Kollegen wurde ihm die Lehrbefugnis entzogen, und was besonders schlimm war, er wurde ohne Ansprüche auf ein Ruhegehalt fristlos entlassen. Dies bedeutete, dass er für unbestimmte Zeit stempeln gehen und Arbeitslosenunterstützung beziehen musste, die jedoch äußerst knapp bemessen war und nicht mit dem Existenzminimum nach heutigen Standards zu vergleichen ist. Die Versuche meines Vaters, eine Rehabilitierung zu erreichen, scheiterten. Zeugenaussagen, die zu seinen Gunsten sprachen — wie z.B. eidesstattliche Erklärungen seines Schwagers Wilhelm Nathanson oder dessen früherer Sekretärin oder der Literaturwissenschafterin Vilma Mönckeberg (1892—1985) oder seines Doktorvaters Hermann Junker — wurden von der Militärverwaltung als irrelevant abgelehnt. Während einer der zahlreichen Befragungen wollte der zuständige britische Offizier, der anscheinend direkt von der Militärakademie nach Deutschland abkommandiert worden war, von meinem Vater wissen, warum dieser "als intelligenter Mensch" sich nicht dem Kreis um den Obersten Stauffenberg angeschlossen und gegen das NS-Regime gekämpft habe. Vor einiger Zeit habe ich folgendes Zitat der Publizistin Marion Gräfin Dönhoff (1909—2002) gelesen: "[...] Da die Alliierten — mit Ausnahme der Sowjets — nie in einer Diktatur gelebt hatten [...], bedienten sie sich einer falschen Messlatte: Sie glaubten, man könne Heldentum zur Norm erheben. Alle alliierten Gerichtsverfahren seit 1945 basierten daher auf dem Vorwurf des unterlassenen Widerstandes. [...] Die Alliierten hatten für ihre Verfahren einen Begriff eingeführt, der allen rechtsstaatlichen Traditionen widerspricht: die Kollektivschuld, d.h., sie hatten Kategorien gebildet, deren Mitglieder automatisch als Verbrecher galten, auch wenn kein subjektives Verschulden vorlag" (aus: "Die Nürnberger Prozesse: Ein abschreckendes Beispiel", 1993). Die genauen Gründe für die Entlassung meines Vaters habe ich nie erfahren. Vermutlich hat das seinerzeitige erste psychiatrische Gutachten ein Übriges dazu getan, dass Ernst Zyhlarz als untragbar für den Hochschulbetrieb eingestuft wurde. Ende Mai 1945 geriet mein Vater in eine schwere seelische Krise mit Suizidabsichten und begab sich freiwillig in stationäre psychiatrische Behandlung. Gleichzeitig machten sich bei meiner Mutter mehrere akute Magengeschwüre bemerkbar, und auch sie musste ins Krankenhaus gehen. Mein Bruder Igor und ich wurden für drei Monate in zwei verschiedenen Kinderheimen untergebracht — eine Zeit, an die ich eine sehr negative Erinnerung habe. Ernst Zyhlarz versuchte, das seinerzeitige psychiatrische Gutachten durch den Hamburger Psychiater Hans Bürger-Prinz (1897—1976) revidieren zu lassen, der dieses Ansinnen anfänglich kategorisch ablehnte. Einige Zeit später tat er es dann doch. Aber dieses neue Gutachten hatte nicht den erhofften Erfolg und konnte die Rufschädigung meines Vaters durch die gezielten Falschaussagen seiner Kollegen bei der britischen Militärverwaltung nicht mehr rückgängig machen. Am 1. August 1946 legte der Hamburger Rechtsanwalt Herbert W. Samuel (1901—1982) im Auftrag von Ernst Zyhlarz Berufung gegen dessen Entlassung ein; ein Jahr später, am 8. September 1947, fand die Gerichtsverhandlung statt. Die fristlose Entlassung wurde zwar nicht rückgängig gemacht, aber wenigstens der Anspruch auf eine Art Übergangsgeld zugebilligt, das erst ab 1955 durch ein reguläres Ruhegehalt ersetzt wurde. In einem Brief vom 10. Oktober 1947 an seinen Freund Tschenkéli schrieb Ernst Zyhlarz unter anderem: "[...] Du hast seinerzeit [Mai 1944] den Eindruck gewonnen, dass man mir bei der Hochschulverwaltung feindlich gesinnt gewesen ist und dass sich diese Animosität von Verwaltungsjuristen etc. sogar bis zu fachwissenschaftlicher Kritik verstieg. (...) Heute weiß ich auch die Grundlagen dieser obskuren Bewertung, mit der man mir nach langjährigem Zuwarten endlich den Strick zudrehen wollte. Demnächst gedenke ich, bei der Fakultät ehrenrätliches Verfahren zu beantragen. [...]" Im selben Brief bezeichnet mein Vater das Kolonialinstitut als "Nazisten-Verein", schreibt von "langjährigen disziplinaren Unstimmigkeiten" und erwähnt die Namen Gundert, Rein, Ipsen, Karlson und Knull als mutmaßliche Drahtzieher der Intrige gegen ihn. Wilhelm Gundert (1880—1971) war Japanologe und Pfarrer sowie Rektor von 1938—1941; Adolf Rein war Historiker und Extraordinarius sowie Rektor von 1934—1938 und "wurde am 8. Mai 1933 zum Fachreferenten in der Hochschulbehörde für die Universitätsreform berufen" (aus: "Hochschulalltag im Dritten Reich", Bd. I, 42); Hans Peter Ipsen (1907—1998) war Professor für öffentliches Recht sowie SA-Mann und SA-Sturmrechtsberater (aus: "Juristen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus", Ausgabe 10/2004, Jura HH — Das Magazin); Gustav Knull war Regierungsrat und anscheinend für die Universität in Hamburg zuständig. In diesem Brief, den ich erst 1990 im Archiv von Kita Tschenkéli entdeckt habe, beklagt sich Ernst Zyhlarz über zwei "ohne mein Wissen angefertigte Schriftenverzeichnisse in dem Katalog des Kolonialinstituts, wo ausgerechnet meine grundlegenden Arbeiten verschwiegen [werden] und in der Folge auch alle laufenden Druckarbeiten von mir ignoriert erscheinen." Und er schreibt weiter: "Ich möchte Dich nun bitten, für meinen Rechtsanwalt Dr. Herbert Samuel eine Darstellung Deiner Eindrücke bei jener Unterredung mit dem Syndicus Prof. Schrewe, sowie von der Mühe, die es Dich damals kostete, dem Herrn die absurden Vorurteile auszureden, zu geben. In dieser Darstellung [...] brauchst Du Dich lediglich auf das Tatsächliche bei Eurer Unterredung zu beschränken. [...] Rücksichten irgendwelcher Art auf jene Herren sind heute völlig überflüssig, da sie als Nazi nunmehr ausgeschaltet sind. — (Was meinst Du, wenn die damals geahnt hätten, dass Du mit der Widerstandsbewegung in Deutschland voll beschäftigt warst?!)." Ernst Schrewe (1900—1957) war Senatssyndikus und Extraordinarius für Volkswirtschaft, der von Tschenkélis Doktorvater Heinrich Sieveking (1871—1945) wissenschaftlich gefördert und menschlich sehr geschätzt wurde. Mit der letzten Bemerkung im Brief meines Vaters von der "Widerstandsbewegung" war vermutlich der Aufstand der sowjetischen Kriegsgefangenen georgischer Herkunft auf der Nordsee-Insel Texel gemeint, die vom 4. April bis 20. Mai 1945 gegen deutsche Soldaten revoltierten; dieser Aufstand endete damals in einem blutigen Desaster. Ob das im Brief angedeutete "ehrenrätliche Verfahren" stattgefunden und was es möglicherweise ergeben hat, weiß ich nicht. 1955 wurde Ernst Zyhlarz eine Gastprofessur an der Universität von Buenos Aires in Argentinien angeboten, aber er musste wegen seiner angegriffenen Gesundheit (chronische Durchblutungsstörungen in den Beinen) darauf verzichten. Im selben Jahr erhielt er von einer privaten englischen Wissenschaftsstifung einen kleineren finanziellen Forschungsbeitrag im Zusammenhang mit der Publikation seines Aufsatzes "The Countries of the Ethiopian Empire of Kash (Kush) and Egyptian Old Ethiopia in the New Kingdom". Kurze Zeit später verlangte die Kasse der Hamburger Hochschulbehörde die Ablieferung dieses Forschungsbeitrags in Höhe von ca. DM 2000,-- da Ernst Zyhlarz gegen irgendwelche internen "Richtlinien" verstoßen habe. Am 14. Juni 1961 starb meine Mutter an einem zu spät erkannten und inoperablen Unterleibskarzinom — ein Schicksalsschlag, von dem sich mein Vater nie erholt hat. Drei Jahre später, am 12. Juli 1964, starb er an den Folgen einer Hirnembolie. NACHBEMERKUNG Im Vorwort zu meiner Bibliographie von 1985 habe ich die meisten der Aspekte, die ich im jetzt vorliegenden Text erwähne, weggelassen, um nicht alte Wunden aufzureißen. Der Afrikanist Ernst Dammann, der meine damaligen Recherchen mit zusätzlichen Informationen ergänzt hatte, schrieb mir am 30. Juli 1985: "[...] Sodann danke ich Ihnen für die Übersendung des von Ihnen zusammengestellten Nachrufs für Ihren Vater. Es ist gut, dass dadurch der Nachwelt bewusst wird, was Ihr Vater für die afrikanistische Wissenschaft geleistet hat. [...]" Erst im April 2006 habe ich durch einen Hinweis des Wissenschaftshistorikers Arno Sonderegger von der Universität Wien erfahren, dass Ernst Dammann in seiner Schrift 70 Jahre erlebte Afrikanistik (1999) sehr viel negativer über meinen Vater urteilte. Die kürzliche Anfrage des Afrikanistik-Studenten Martin Haars aus Hamburg hat mir nun die Möglichkeit gegeben, das falsche Bild meines Vaters ("nationalsozialistisches Engagement", "Verfechter der rassistischen Nazi-Ideologie") zu korrigieren, das seinerzeit durch Verleumdung entstanden war. In der Begleitschrift zur Ausstellung "Operation Gomorrha — die Zerstörung der Hamburger Staatsbibliothek 1943" vom 9.7. bis 23.8.2003 heißt es auf Seite 14: "[...] Eine Entnazifizierung des Lehrkörpers wird von den Universitätsgremien jedoch so weitgehend wie möglich unterlaufen. Viele besonders fleißige Denunzianten, Antisemiten und Karrieristen bleiben in Amt und Würden. [...]." Mein Vater Ernst Zyhlarz ist für mich das beste Beispiel dafür, mit welch perfiden Methoden missliebige Menschen in der NS-Zeit bzw. in den ersten Nachkriegsjahren diffamiert und kaltgestellt worden sind. AUSWAHLBIBLIOGRAFIE Mukarovsky, Hans (1983): Eintrag zu "Zyhlarz, Ernst". In: Lexikon der Afrikanistik, Hg. Hermann Jungraithmayr/Wilhelm Möhlig. Berlin: Reimer: 276 Post-Zyhlarz, Katja (1985): Ernst Zyhlarz (1890—1964). Bibliographie. In: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 135/1: 21—26 Post-Zyhlarz, Katja (2010): Kita Tschenkéli. Verfügbar unter: http://www.afrikanistik.at/pdf/personen/tschenkeli_kita.pdf (Zugriff 19.01.2010, 1—3) EINIGE WERKE VON ERNST ZYHLARZ (EINE AUSFÜHRLICHE BIBLIOGRAPHIE FINDET SICH IN: POST-ZYHLARZ 1985: 21—26) Zyhlarz, Ernst (1926 und 1928a: Das Verbum im Kondjara. In: Anthropos 21: 244—263 und 23: 590—595 Zyhlarz, Ernst (1928b): Grundzüge der nubischen Grammatik im christlichen Frühmittelalter (=Abhandlungen für die Kunde des Morgenlandes Bd. 18/1). Leipzig: Deutsche Morgenland Gesellschaft Zyhlarz, Ernst (1928c): Zur Stellung des Darfur-Nubischen. In: Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes 35: 57—66 Zyhlarz, Ernst (1930): Zum meroitischen Sprachproblem. In: Anthropos 25: 409—463 Zyhlarz, Ernst (1931/32): Ältere und jüngere Pluralbildung im Berberischen. In: Zeitschrift für Eingeborenen-Sprachen 22: 1—15 ) * verfasst von: Katja Post-Zyhlarz, Zürich, im August 2007 letzte Änderung: 29.01.2010 zu zitieren nach: Post-Zyhlarz, Katja (2010): Ernst Zyhlarz. Verfügbar unter http://www.afrikanistik.at/pdf/personen/zyhlarz_ernst.pdf (Zugriff Datum, Seite) Fotonachweis: Ernst Zyhlarz im Jahr 1935, digital abfotografiert und zur Verfügung gestellt von Katja Post-Zyhlarz am 19. März 2008. |
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